Out of Africa


Haus 42

Anfang der 70er baute Boris Vater in einem Vorort von Pula ein Haus mit zwei Appartements zu je 120 Quadratmeter und einem ausgebauten "Kellergeschoss" von 50. Es war von Anfang an daran gedacht, wann immer möglich, die oberen Etagen an Touristen zu vermieten. Das war damals eine neue Erwerbsquelle im sozialistischen Jugoslawien, und es entstanden auf Istrien sehr viele solche Häuser, die noch heute im Sommer gut ausgebucht sind. Warum dieses Haus gerade die Nummer 42 bekam, ist wohl nur mit höherer Mathematik und Chaostheorie erklärbar. Die Kenntnis der Hausnummer ist jedenfalls beim ersten Aufsuchen keine große Hilfe. Manche Touris hatten beim ersten Einkaufsbummel in der nahen Innenstadt sogar Probleme, wieder nach Hause zu finden - Haus 42 als verwunschene Gralsburg ;)

Mit Douglas Adams berühmtem Roman hat es jedenfalls nichts zu tun. Der entstand erst später und wurde weder von Boris noch von engeren Besuchern je gelesen. Obwohl vielleicht die Zahl 23 in Boris Leben etwas öfters vorkommt, gilt das gleiche für die berüchtigte "Illuminatus!"-Trilogie. Boris schätzte zwar ernsthafte Science- Fiction, aber Berichte über Vergangenheit und Gegenwart mußten auf Fakten beruhen. Fantasy oder Wilson/Eco-Stoff war ihm ein Graus. Er liess sich nicht gerne desorientieren. Für Religiöses, Übersinnliches, Wunderglauben und ähnliche "Durchblutungsstörungen des Gehirns" war er auch nicht zu haben.

Haus 42 Haus 42, Anfang der 80er Jahre. Das Bild wurde von Boris selbst gemacht. Nach etwas Diskussion, wie man diese Front ohne Weitwinkelobjektiv überhaupt ablichten könne, nahm er einfach die Kamera und kletterte am Nachbarhaus hoch. Die beiden Markisen sind am Kellergeschoß, wo er gerade wohnte. Links im Bild hinter dem Gebüsch die Garage, die der eigentliche Keller war. Vor allen Fenstern sind Jalousien damit die Mittagssonne die Räume nicht aufheizt. Durch das Tor rechts kommt man auf den Weg zur Badebucht.

Seine Lage machte Haus 42 zu einer kleinen Perle. Boris meinte mal, kein anderes Haus in Pula sei so nahe am Strand. Durch einen angrenzenden Pinienwald kam man nach nur 30 Metern zu einer wunderschönen Badebucht. Der Strand besteht aus Kalkstein wie überall in Istrien. Man wird also nicht von Sand verklebt wie auf der anderen Seite der Adria. Die leichte Strömung transportierte nicht nur den Sand, sondern auch alle Art von Unrat nach Italien. Istriens Küstengewässer ist das sauberste, Quallen- oder Algenplagen kennt man hier praktisch nicht. Istrien ist berühmt für seine FKK Strände - Gebiete, in denen man angehalten ist, nur nackt zu gehen. An allen anderen Stränden ist nacktbaden erlaubt, aber es ist nicht überall üblich. Wer es tun will, tut es - wer nicht, der lässt es.

bucht Die Badebucht nahe Haus 42. Die gemauerten Liegeplätze entstanden erst zur Tudjman-Zeit Anfang der 90er. Boris meinte "Es hat sich leider was verändert, du wirst schon sehen", und dann sah man die Bescherung. Früher waren dort nur natürliche Kalkstein-Schichtungen, wie man sie noch links vom Gemäuer sieht. Zumindest unter Wasser ist aber alles beim alten geblieben. Rechts durch den Wald geht der Pfad nach Haus 42, wo Boris seine Miez fand. Früher sah man die roten Dächer der Häuser, heute sind sie von den Pinien verdeckt.

In dieser Bucht hat Boris schon sehr früh schwimmen und schnorcheln gelernt. Zur Mittagszeit sieht man richtig die Sonnenstrahlen in die klare Meerestiefe gehen und Wellen auf den Grund malen. Am Grund entlang zu schwimmen, über Krebse, Muscheln, Seesterne und durch Sardinenschwärme, ist ein ganz besonderer Genuss. Da man in Istrien dieses Erlebnis schon in wenigen Metern Tiefe hat, reicht es den meisten, nur zu schnorcheln. Deshalb machte Boris erst Mitte der 90er den Taucherschein in Pula. Mit Flaschen kann man länger und ausgiebiger die Unterwasserwelt bewundern. Fast noch wichtiger ist dann aber der Neopren-Anzug. Die letzten 2 Meter über Grund sind deutlich kälter als die darüber liegenden Schichten.

Will man etwa Seesterne oder sonst was interessantes am Grund finden, muss man in diese kalte Schicht hinein. Denn an der Farbe kann man diese Objekte in der ihnen üblichen Tiefe nicht mehr erkennen, nur noch nach den Umrissen. Jeder mit schlankerem Körperbau und nur mit Badehose oder noch weniger bekleidet kommt da schnell ins frieren. Für Boris war es aber besonders unangenehm. Er bevorzugte hohe Temperaturen. Als auf der HIP97 die Temperatur die 35 Grad erreichte, sprach er davon, es sei "endlich mollig warm geworden". In Ägypten kletterte er bei 40 Grad noch einen Hang hoch, ohne deutliche Zeichen von Schwitzen. Auch andernorts konnte er bei fast 40 Grad noch mit bester Laune fröhlich durch die Gegend radeln. Seine Thermophilie war ein auffallendes Phänomen. Aber wenn in Berlin mal die Temperatur unter 15 Grad gefallen ist, soll er schon auf Winterbetrieb umgestellt und das Haus nur noch ungern verlassen haben. Nach längerem Schnorcheln in der Bucht, mitunter ist er sogar zu einer der vorgelagerten Inseln geschwommen, kam er schon etwas ausgefroren aus dem Wasser und hat sich dann auf die Felsen gesetzt, um gierig Sonnenwärme zu tanken. Egal wie kalt es ihm am Ende wurde, es hat ihm Spass gemacht und er hat es meist noch am gleichen Tag wiederholt. Er konnte mit seinem starken Willen eine Menge aushalten und war ein recht zäher Typ.

Haus 42 entstand in einem Neubauviertel, etwa zur gleichen Zeit wie auch die Nachbarhäuser, entlang einer Straße fast mitten im Wald. Die meisten Bewohner gehörten zur technischen oder verwaltungstechnischen Elite der Stadt. Sie waren gut ausgebildet, intelligent und recht progressiv eingestellt. Viele hatten ein kleines Auto. Besonders wohlhabend oder gar reich war aber niemand, wie das eben so im sozialistischen Jugoslawien war. Die Häuser wurden gebaut von Leuten, die gerade für sich oder für ihre Kinder genug Geld zusammen hatten, um sich den Bau zu leisten. Kleinere Arbeiten erledigte man dann selbst, soweit man konnte. Wer in der Nachbarschaft etwas besonders konnte, half den anderen und konnte sich dann auch auf deren Unterstützung verlassen, wenn er etwas brauchte. Dadurch entstand eine Gemeinschaft, die auch noch viele Jahre später funktionierte. Einer dieser Nachbarn wurde später für Boris' technische Entwicklung ziemlich wichtig.



Die Grundlage der Persönlichkeit

Dass er jedoch eine sehr selbstbewusste und starke Persönlichkeit wurde, dürfte in der Behandlung durch die Eltern liegen. Boris Mutter hatte Talent im Umgang mit kleinen Kindern. Die Touristen und ihre Kinder in Haus 42 hatten meist ein recht gutes Betragen. War es mal nötig, Kinder in die Schranken zu weisen, genügte ihr nur ein Blick oder Mienenspiel. Ein Zuschauer kommentierte das mal mit den Worten: "So isses richtig. Ne Mutter muss nur kucken un dann muss es klappen mit dem Kind." Vermutlich hat auch Boris als Baby zuerst das Kommunizieren über Blickkontakt und Mimik gelernt. Wer das ebenso konnte, war auch noch viele Jahre später in der Lage, nur über die Mimik, Gestik und minimale Lautgeräusche sich mit ihm auszutauschen. Trotzdem war Boris alles andere als redefaul. Wenn seine Mutter Kindern etwas erklärte, tat sie es immer in einem sehr ruhigen Tonfall, eingehend auf die Vorstellungswelt der Kinder. Auch der Vater war kein lauter Mensch. Boris mochte kein Geschrei und hasste lauten Kommando-Ton. Seine Kommentare übers Militär waren entsprechend wenig schmeichelhaft.

Wie Boris selbst sagte, wurde er nie von seinen Eltern oder Großeltern geschlagen. Seine Eltern haben das damals bestätigt und als "selbstverständlich" bezeichnet. Das war es aber nicht und ist es auch heute nicht. Tatsächlich wurden nach Umfragen von Ende der 90er etwa 90% der Kinder selten oder auch häufiger von ihren Eltern geschlagen. Diese Zahl ist etwa gleich für Österreich, Deutschland, England und vermutlich den größten Teil Europas. Gemeint sind dabei nicht nur schwere Schläge, sondern auch einfache Ohrfeigen. Kinder werden davon äußerlich nicht verletzt. Im Innern leidet aber das Selbstbewusstsein, sie verspüren es als notwendig, sich Autoritäten zu unterwerfen. Sie lernen, dass Gewalt und Geschrei bestimmender sein können als Diskussion und Argumente. Hier ein beeindruckendes Dokument zum Stand der Forschung.

Dieser blonde Junge ist tatsächlich Boris. Solange er noch klein war veränderten offenbar die Sonnenstrahlen seine Haarfarbe nach blond. Wenn er nach Pula kam, sah er meist grau aus und hatte dunkel-braune Haare. Am Ende des Sommers war er dann dunkel-braun und blond. Er experimentiert hier mit etwa 4 Jahren im Garten von Haus 42. Es hatte als eines der wenigen Häuser Rasen im Garten, statt Gemüse, was den Kindern natürlich lieber war. Boris füllt hier Wasser in ein leeres Bierfass und beobachtet fasziniert die Veränderung des Geräuschs. Aus dem tiefen Glubbern des leeren Fasses wird ein immer höherer Ton wenn der Resonanzkörper sich füllt. Im Jahr drauf lief er mit einem CB-Funkgerät herum, die Antenne war größer als er selbst. In nur einem Jahr vom NF- zum HF-Resonator ;)

Die Nachbarsfamilien von Haus 42 hatten auch einige Kinder in Boris' Alter. In einer Gruppe von etwa einem Dutzend, etwas mehr Mädchen als Jungs, spielten sie in der Umgebung. Es gab viel Wald bis ans Ufer hin, einen Steinbruch (wo ab und zu ein Zirkus gastierte), wenig Wiesen, eine ungeteerte Strasse zur Stadt und viele Pfade über rote Lehmerde. Die Kinder, häufig beim Partisanen-Spiel, waren oft sich selbst überlassen. In der Bucht nahe Haus 42 sah man sie manchmal nackt baden, auch Boris machte als Kind gerne FKK. Mangels Sand konnte man keine Sandburgen bauen, dafür hielten die Steinburgen, die sie machten, um so länger.

Mit 7 oder 8 machte es ihm nichts aus, wenn andere sahen, dass er noch ab und zu bei seiner Mutter kuschelte. Seine Mutter meinte, dass er verschmust sei und schon immer viel gestreichelt und geknuddelt wurde. Was auf den ersten Blick wie ein übermäßiges Verhätscheln aussah, führte aber zu einer ungewöhnlich selbstbewussten und angstfreien Persönlichkeit. Er war ziemlich das Gegenteil von einem Muttersöhnchen. Das war spätestens mit etwa 10 durch sein souveränes Auftreten deutlich. Im nachhinein betrachet zeichnete es sich schon früher ab. Als seine Oma bei einem Besuch in Pula übertriebene Angst vor etwas dubiosen Handwerkern zeigte, baute er sich vor ihr auf wie ein kleiner Gorilla. Drohend hob er den Arm, um sie zu beschützen. Er war etwa sechs Jahre alt. Vieleicht fühlte er sich gerade unbezwingbar, ziemlich sicher wusste er aber, dass andere Anwesende ihn nicht im Stich lassen würden.

Auffallend auch, dass er sich schon damals aufregte, wenn er sah, wie andere Kinder seiner Meinung nach von ihren Eltern schlecht behandelt wurden. Er konnte da deutlich seine Meinung sagen, Alter war für ihn nicht gleichbedeutend mit Autorität. Mit 6 ging er alleine regelmäßig in einen nahen Jugendclub. Er wollte schon früher, man hat ihn aber nicht reingelassen. Mit 8, als er gerade das Geld zählen konnte, ging er jeden Sonntag, oft auch alleine, zum Flohmarkt um Sachen zu kaufen und auch zu verkaufen. So verschwanden die Biene-Maja-Hefte. Ebenfalls mit 8 kam er mal alleine von Berlin über Zagreb nach Pula geflogen. Beim Abholen auf die Frage, wie ihm der Flug gefallen habe, meinte er nur: "Die da so das Essen verteilen, waren wirklich nett gewesen." Erst später erfuhr man nebenbei, dass er sogar ins Cockpit gedurft hatte und beim Piloten auf dem Schoss sass. Eine Stewardes hat sich später noch an ihn erinnert. Er ging mit allen Erwachsenen recht souverän um.

Boris (rechts) mit seinem jüngeren Cousin, der auch nahe Pula wohnte. Er bahndelte ihn wie einen kleinen Bruder und fühlte sich für ihn mit verantwortlich. Das Bild entstand als Boris auf einer Entdeckungstour einen Paßbild-Automaten fand. Interessiert probierte er aus, was man mit dem Ding so alles anfangen kann. Die besten Ergebnisse verschenkte er dann. Wie man sieht, hatte er damals schon die Vorliebe für schwarze "hält wärmer"-Kleidung. Auch seine Haare haben sich in dem Alter nicht mehr verfärbt.

Ein anderes mal berichtete Boris in der Grundschule sehr positiv von seinem kurz vor der Pensionierung stehenden Mathelehrer, von dem er besonders viel lernen könne. Seine Eltern hatten auf dem Elternabend aber ganz anderes gehört. Die anderen Kinder hatten Angst vor diesem Lehrer, da er zu cholerischen Ausbrüchen neigte. Boris hatte das miterlebt und fand die Reaktionen des Lehrers zwar begründet, aber auch etwas übertrieben. Irgendwelche Angstgefühle oder Stress sind bei ihm aber offenbar nie dabei hochgekommen. Auch später in der Lehre war er der einzige, der freiwillig mit einem zwar kompetenten, aber auch etwas cholerischen Ausbilder zusammenarbeitete. Dem Mathelehrer schenkte er zum Abschied einen kleinen Abakus, dem Meister eine zusammengelötete Raumfähre aus Elektronikteilen.

Man weiss nicht, wie Boris Tod war, aber die schockierendste und angstvollste Situation seines Lebens war wahrscheinlich im November 1995 abends in einem Hotel in Jordanien: ein plötzliches schweres Erdbeben. Das Hotel war danach abbruchreif. Alle liefen während der Erdstöße in Panik auf die Straße. Es war eine Zeit lang unklar, ob ein Teil eingestürzt war, ob es Tote gab und wer noch raus gekommen war oder nicht. In der ganzen Stadt war der Strom ausgefallen. Die meisten Leute auf der Straße schrien wild durcheinander, weinten, liefen ziellos herum, waren starr vor Schock oder übergaben sich. Bei Boris war nichts dergleichen. Er blieb ruhig, setzte sich bald mit ein paar anderen in ein Straßenkaffee und wartete, bis alles spürbar abgeklungen war. Nach so 2 bis 3 Stunden ging er zurück zum Hotel, um den Schaden am Gebäude zu beurteilen.

Der Rest der Reisegruppe lief ihm nach. Das Hotel war bereits vom Personal abgesperrt, wegen Einsturzgefahr. Es gab mit dem Personal ein deutliche Diskussion und Boris setzte schliesslich durch, dass er aufs Zimmer gehen konnte um die Koffer zu holen. Am nächsten Morgen war ohnehin der Abflug geplant. Da er nach dem Abendessen einen Stadtbummel vorgehabt hatte, hatte er zufällig auch eine Taschenlampe dabei. Erst als er wieder heil zurückkam, wagten sich auch andere in die dunkle Ruine hinein, um ihre Koffer zu holen. Spätestens an diesem Abend muss auch seine Mutter gemerkt haben, dass sie da einen beeindruckenden jungen Mann großgezogen hatte. Man sah, wie er auch unter starkem Stress eine ungewohnte Situation noch klar erfassen und entsprechend überlegt handeln konnte.

Die Behandlung, die er als Kind durch die Eltern erfuhr, war sicher die wesentliche Vorausetzung für die frühe und deutliche Entwicklung seines Selbstbewusstseins als Grundlage seiner Persönlichkeit. Dabei könnte der intensive Hautkontakt auch noch für eine andere Entwicklung bedeutsam gewesen sein. Boris blieb sein ganzes Leben lang ein notorischer Barfussgeher. Als er mal mit dem Auto zum Abholen auf den Flughafen von Pula gefahren kam, deutete er nach unten: "Ich habe mir sogar extra Schuhe angezogen!" Na, da mußte man sich ja geehrt fühlen. Zuhause und oft auch innerhalb Pulas lief er tatsächlich barfuss. Nur mit Shorts und T-Shirt gab er deshalb mitunter einen etwas ärmlichen Anblick. Bei genauerem Hinsehen machten aber seine Kleidung und er selbst immer einen sehr sauberen und gepflegten Eindruck - auch seine Füße. Vor dem zu Bett gehen wusch und pflegte er sie gründlich. Auffallend auch, dass Boris immer alles Neue befingern mußte. Selbst Anfang der 90er mußte er die Fledermäuse in der Nische eines altägyptischen Tempels befummeln: "Ah, ich geh mal kille kille machen." Zwar streichelte er sie nur kurz und sehr zärtlich, aber sie hätten sicher lieber geschlafen... Oh diese Touristen!

Boris, wieder mit seinem Cousin, auf einem Schiffsausflug. Mit Leuten, die er mochte, war er gerne zusammen. Vieleicht früher als die meisten anderen war Boris eine recht gefestigte Persönlichkeit. Er hatte auch Spass an vielem, was seiner Altersgruppe entsprach. Wenn er mal entsprechenden "Blödsinn" machte, konnte man immer sicher sein, dass er sich an Grenzen hielt und niemand geschädigt wurde. Sein souveränes Auftreten war Teil eines ausgeprägten Selbstbewusstseins, was ihn auch Interessen verfolgen lies, die nicht dem Trend oder der Mode entsprachen. Eher war er jemand, der seiner Umgebung Maßstäbe setzte.

Mit richtiger Gewalt wurde er erst in der Schule konfrontiert. Ein Kurs in Selbstverteidigung wurde ihm empfohlen - er war davon nicht begeistert. Gefragt, was er denn tun würde, wenn einer sich unbedingt mit ihm prügeln wolle, meinte er, da "mache er einen Bogen rum". Seine Mutter erwähnte dazu, was sie von einer Lehrerin erzählt bekam: Als mal große Prügelei im Schulhof war, fand sie Boris im Gebüsch versteckt. Auf diese Anekdote seiner Mutter grinste er nur. Er hatte eben genügend Selbstbewusstsein, um bei einer Bedrohung auch schnell reissaus nehmen zu können. Die meisten Kinder mit weniger Ego können das nicht, sie haben das Gefühl, ihre Ehre verteidigen zu müssen.

Boris' Fähigkeit, mit anderen umgehen zu können, seine soziale Kompetenz, führte bald dazu, dass sich das Gewaltproblem für ihn von selbst löste. Er sprach mal von einer Freundin, offenbar stärker als er, die ihn beschützen würde. Auch hatte er sehr bald Freunde, die dann alle zusammenhielten. Einen davon brachte er im Sommer mal ins Haus 42 mit. Es war die erste Auslandsreise dieses Jungen und vieleicht auch die einzige, die er je hatte. Er war ein aufgewecktes Kerlchen, aber nervös, unsicher und impulsiv. In der Schule war er nicht überragend und neigte zu Gewaltausbrüchen. In seinem Elternhaus gab es ein großes Alkoholproblem. Für ihn war die Kindheit ein Wechselbad von Liebe im nüchternen Zustand und Prügel im Suff. Wahrscheinlich überwog letzteres. Er erzählte davon, dass er manchmal auf einem Spielplatz übernachtete, wenn es zu Hause wieder zu schlimm war. Das Jugendamt war wohl informiert, dort brauchte man aber die Ressourcen für noch schlimmere Fälle. Dieser Junge war in vielem das Gegenteil von Boris, trotzdem kam Boris gut mit ihm aus. Die Lehererin sagte, Boris solle sich besser einen anderen Freund suchen - ein Rat, den Boris nicht nur ignorierte sondern der ihn offensichtlich in innere Empörung versetzte. Boris kannte das Elternhaus seines Freundes und hatte offenbar schon mit 8 Jahren realisiert, was einen Menschen so prägt.

Boris hatte früh gelernt, Menschen einzuschätzen. Ins Haus 42 kamen im Sommer alle zwei bis drei Wochen zwei neue Familien. Auf Leute, die er interessant fand, von denen er was lernen konnte, ging er gerne zu und zeigte keine Scheu. Langweilige "Nur-in-der-Sonne-Lieger" hakte er in Sekunden ab. Wenn er mal im "Keller" des Hauses lebte, sah er das Kommen und Gehen der Touris in allen Variationen: Gestresst, mit schlechter Laune bei Ankunft, am nächsten Tag erfreut über die nahe Bucht mit dem klaren Wasser, lobende Worte zum Essen in Pulas Restaurants in der ersten Woche und mal ein paar angeheiterte abendliche Heimkehrer in der letzten Woche. Dieser Kontakt mit hunderten Menschen seit der frühen Kindheit dürfte seine Selbstsicherheit im Umgang und der Auswahl von Menschen geprägt haben. Wen er nicht leiden konnte, dem wurde der Rücken zugekehrt. Er konnte dabei auf eine persönliche Erfahrung zurückgreifen wie kaum ein anderer seines Alters. Sicher wirkte er deshalb auf manche Erwachsene etwas irritierend. Er hatte mehr Menschenkenntnis als sie.

Besuch beim Kellerkind. Boris, etwa 13, residiert gerade im Kellergeschoß, da Haus 42 gut ausgebucht ist. Die Bar, an der er sitzt, ist Teil der Wohnküche, geschmackvoll eingerichtet wie der Rest des Hauses. Auch die Blumen hatte er nicht etwa für den Empfang von Gästen in der Vase, sondern einfach, damit es schön aussah, um sich daran zu erfreuen. War eines der oberen Appartments frei, so wohnte er dort. Vieleicht auch, weil das Kellergeschoß, in den Hang gebaut, nicht so heiß wurde wie die anderen Etagen ;)

Sein beeindruckendes Selbstbewusstsein war die Grundlage, um Entscheidungen aufgrund von eigenem Wissen selbst abwägen zu können, ohne zu glauben, auf übliche Autoritäten hören zu müssen. Als er sich entschied, mit Mittlerer Reife die Schule zu verlassen und eine Lehre zu beginnen, waren seine Eltern wenig begeistert. Er hat mit der Lehre an der TU Berlin und anschliessendem Fachabi die Zeit aber besser genutzt als mit allgemeinem Abitur und vielem unnützem Paukstoff. Auch seine Eltern sahen schliesslich ein, dass diese Entscheidung durchaus ok war. Später dann hörten sie gerne seine Meinung und Ratschläge. Sie wussten, dass, was er sagte, wohl begründet war. Er war schon mit 13 eine selbstständigere Person als andere es je in ihrem Leben werden.


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